1908-1914

Es war tatsächlich der Beginn einer neuen Ära: Der MTV Vorsfelde nahm Damen auf. Geturnt wurde allerdings mit langen Textilien, Shorts waren noch undenkbar.

In den Januarprotokollen des MTV nicht erwähnt, in einem eigenen Buch dokumentiert, begann am 15. Januar 1908 eine neue Ära für den Verein: Die Gründung einer Damenabteilung. Die Anregung kam von den jungen Damen selbst und die Versammlung wurde vom Schriftwart Wilhelm Diedrichs und dem Turnwart Hermann Behrens einberufen. Das Protokoll vermerkte: „Da die Versammlung wider Erwarten seitens der hiesigen Damen gut besucht war (…)“ und Zwecke und Vorteil des Damenturnens von den obigen erläutert waren, erklärten sich nachstehend aufgeführte Damen bereit, der Damenabteilung beizutreten:

1. Frl. Meta Behrens
2. Frl. Erna Bertram
3. Frl. Hermine Flohr
4. Frl. Emma Burg
5. Frl. Lieschen Hälig
6. Frl. Anna Imker
7. Frl. Helene Hottopp
8. Frl. Elli Jordan
9. Frl. Anna Markworth
10. Frl. Ida Müller

11. Frl. Else Oelmann
12. Frl. Helene Prinke
13. Frl. A. Backebusch
14. Frl. Fr. Backebusch
15. Frl. Ottilie Riemann
16. Frl. Anna Rowohlt
17. Frl. Minna Schulze
18. Frl. Mathilde Witte
19. Frl. Grete Reimers
20. Frl. Grete Rebbe

Die Sportlerinnen des MTV Vorsfelde konnten sich auch im Matrosenanzug sehen lassen. Das Bild stammt aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts.

Mathilde Witte war die erste Schriftführerin und zugleich Kassiererin. Die Leitung der Damenabteilung oblag dem stellv. Turnwart Hermann Behrens, denn auf eine männliche Leitung wollte man nicht verzichten. Von einer endgültigen Verschmelzung der Damenriegemit dem MTV nahm man noch Abstand. Wenn man bedenkt, dass der Flecken Vorsfelde noch ländlich strukturiert war und die Bevölkerung eher konservativen Charakter zeigte, so war die Gründung der Damenabteilung ein mutiger Schritt in die Zukunft. So hatte sich zum Beispiel der MTV Fallersleben erst nach dem Ersten Weltkrieg entschlossen, Damen in den Verein aufzunehmen.(15) In Deutschland selbst begannen schon in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts die Frauen, von den „Zwängen des Korsetts befreit“, gymnastische Übungen auszuführen.(16) Ausgehend von England und Deutschland hat die Begeisterung des Frauenturnens um die Jahrhundertwende ganz Europa erfasst. Wettkämpfe stießen auf Ablehnung, denn man warnte vor übermäßiger Muskelbildung. Dem Zeitgeist entsprechend waren Anmut, Grazie und Ästhetik erwünscht. So boten viele Vereine den Frauen Gymnastik, Schwimmen und Tennis an. Mit den fraulichen Sportarten wie Tennis und Eiskunstlaufen nahmen die Frauen schon 1908 an den Olympischen Spielen teil. Beim Leipziger Turnfest 1913 turnten Damen in weiten schwarzen, unter den Knien zusammengebundenen Pumphosen und Blusen mit halblangen Ärmeln. Diese Kleidung wurde als fortschrittlich beschrieben. Daran gemessen sieht man, wie modern die Vorsfelder Mädchen in ihrer Turnkleidung waren. Die Turnbewegung der Damen beeindruckte auch die Männer, da nach zwei Jahren die Teilnehmerzahlen konstant blieben. So war es nur eine natürliche Folge, dass die Hauptversammlung am 9. Januar 1910 beschloss, die Damenriege als volle Mitglieder aufzunehmen und ihnen Geräte und Turnhallen zum Üben zu überlassen. Ihr monatlicher Beitrag betrug 15 Pfennig. Am Ende des Jahres bedurfte es allerdings schon der Mahnung seitens des Leiters, „(…) der Sache nicht untreu zu werden und sich der Turnerei mit Lust und Liebe zu widmen.“ Die Damen gelobten Besserung. Die Männerriegen besuchten nach wie vor eifrig Gruppen- und Gaufeste der näheren Umgebung. Nur am 11. Deutschen Turnfest in Frankfurt nahmen sie wegen der großen Entfernung nicht teil. Erstmals wurde ein verdienstvoller Vorsitzender zum Ehrenvorsitzenden erklärt. Für seinen großen Einsatz erhielt der langjährige Sprecher Witte ein ehrendes Diplom. Der Vereinsbote, der die Beiträge zu kassieren hatte, bekam, wie zur damaligen Zeit üblich, eine jährliche Entlohnung von 10 Mark und war selbst beitragsfrei. Diese Tätigkeit übten meist Lehrlinge aus, die damit ihr spärliches Einkommen aufbesserten. 1910 hatte diese Aufgabe Sattlerlehrling Oskar Witte inne. 1911 traten in den MTV zahlreiche neue Mitglieder ein. Es gehörte für die Handwerkszunft und Kaufmannsgilde zum guten Ton, Mitglied im Verein zu sein. So wurden unter anderem folgende Männer als Turnfreunde aufgenommen: Kaufmann Bahrs, Schmiedemeister Siems, Mühlenbesitzer Meeseberg, Briefträger Fessel, Schneidermeister Müller, Maler Rathmann, Kaufmann Dietrich, Molkereivorsteher Reimers, Kaufmann Stoppelhaar, Schlachtermeister Unverzagt, Maurer Petras, Kürschner Graupner, Hermann Wunsch.

Am 21. April 1912 gründete sich der Turnbezirk Vorsfelde.(17) Der Bedeutung und der Größe des Vereins entsprechend, bestand der MTV Vorsfelde darauf, der Namensgeber zu sein und den Bezirksturnwart zu stellen. Beiden Wünschen wurde stattgegeben. Neben Vorsfelde gehörten anfangs folgende Vereine dem Bezirk an: MTV Fallersleben, MTV Rühen, der Neue MTV Vorsfelde, Vater Jahn Velpke und Germania Rühen. Im folgenden Jahr kamen noch vier weitere Ortsvereine hinzu. Dem vorausgegangen war eine Diskussion mit dem braunschweigischen Bezirksvertreter, der besonders darauf hingewiesen hatte, dass der Gau in kleinere Bezirke eingeteilt werden sollte, um das Turnen auf dem Lande zu fördern. Um der Jugend im Ort eine sinnvolle Nutzung ihrer sicherlich nur knapp bemessenen Freizeit zu geben, sollte ein Jugendbund gegründet werden. Insbesondere wurden die Zöglinge zum Beitritt veranlasst: „Dieser Beschluss soll dem Herrn Superintendent Meyer mitgeteilt werden.“ Die außerfamiliäre Erziehung der Kinder und Jugendlichen lag in der Hand der Kirche. So unterstanden die Schulen mit Ausnahme der Gymnasien bis 1919 der Kirchenaufsicht. Auch über die turnerischen Belange des Vereins hinaus versah der MTV gesellschaftliche Aufgaben. Das Jahr 1912 stand für den Verein ganz im Zeichen seines 50. Stiftungsfestes am 27. und 28. Juli.

„Hoch dem Kaiser und Regenten“: 1912 konnte das erste große Vereinsjubiläum des MTV gefeiert werden. Dem Zeitgeist entsprechend gab es „Lützows wilde Jagd“ und einen Marsch zu hören. Immerhin war ein freches Couplet zu sehen. Sportlich wurde es dank der Damenabteilung sowie menschlicher Pyramiden auch.

Das Bezirksturnfest war für denselben Termin geplant. Ein zehnköpfiger Festausschuss musste gewählt werden. Ihm gehörten sowohl aktive als auch passive Mitglieder an. Neben dem Vereinswirt beteiligte sich auch der Hotelier Debes an der Vorbereitung. Dieser hatte allerdings 25 Mark Standgeld zu zahlen. An den Gemeinderat erging ein Gesuch, den Turnplatz zur freien Verfügung zu überlassen und ein Geschenk zu stiften. Wie schon beim letzten Ball sollte Musikdirektor Huhn die musikalische Leitung übernehmen. Das Programm spiegelte den damaligen Zeitgeist wider. Die Huldigung des Kaisers durch die Hymne „Heil dir im Siegerkranz“ war natürlich Pflicht. Denn in Vorsfelde war man kaisertreu und völkisch gesinnt. Die Mitwirkung des Männergesangvereins erfüllte eine Bedingung der ursprünglichen Satzung, das deutsche Lied zu fördern. Musikalische und sportliche Beiträge füllten das Programm und sorgten gleichzeitig für Abwechslung. Dass die Damen mit eigenen Barrenübungen aufwarteten, sprach für ihre jetzt vollständige Integration in den MTV. Da 1913 viele Turner dem Lützow’schen Freikorps angehörten, war das Lied von Theodor Körner „Lützows wilde Jagd“ ein unbedingtes Muss. Das gemeinsam gesungene Lied „Deutschland, Deutschland über alles“ war der stimmungsvolle Abschluss eines gelungenen Festes. Der MTV war somit seiner Zeit voraus. Denn erst am 11. August 1922 erklärte der Reichspräsident Friedrich Ebert Hoffmanns Lied zur Nationalhymne.(18) Das Stiftungsfest schien bei der Vorsfelder Bevölkerung einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen zu haben, was die zahlreichen Eintritte in den Verein bewiesen. Auch finanziell war das Fest ein voller Erfolg. Es ergab einen Überschuss von 118,08 Mark. Hiervon erhielten die Mitglieder eine Rückerstattung von einer Mark. Den Zöglingen erließ man das Tanzgeld zur Hälfte. Auf Unverständnis stieß das Verhalten des Neuen MTV Vorsfelde, dem Verein zum Bezirksturnfest die Überlassung der Geräte ohne Nennung eines Grundes zu verweigern. Hatte man in dem Arbeiterturnverein vergessen, wer ihnen anfangs geholfen hatte? Der MTV erhielt anlässlich seines Festes zahlreiche Geschenke. Hier folgt eine Auswahl: Die Damenabteilung stiftete einen Rundlauf, der Vereinswirt eine Jahresmiete von 50 Mark, die Ehrenmitglieder Witte und Wesche einen Schleuderball und eine Kugel, der Schützenverein Vorsfelde eine Fahnenschleife und die Ehefrauen der Vereinsmitglieder übergaben drei Fahnenschärpen. Die turnerischen Erfolge blieben nicht aus. So gewann im Juni die Musterriege des Vereins beim Gauturnfest in Helmstedt den ersten Preis. Auch zwei weitere Riegen konnten Auszeichnungen erringen. Hermann Witte erreichte mit 89 Punkten das höchste Ergebnis. Rudolf Behrens regte die Gründung einer Knabenabteilung an, damit Schulkinder in den Vereinssport aufgenommen werden sollten. Dazu war wieder ein Gespräch mit der Kirche nötig. Um seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Jugendpflege zu vertiefen, nahm Rudolf Behrens an einem Vortrag in Braunschweig teil. Am Anfang des Jahrhunderts brauchte die Turnbewegung neue Impulse von außen, denn das Turnen allein war keine Basis mehr für einen zukunftsorientierten Verein. Andere Sportarten drängten nach vorn. So war es für viele Vereine eine Notwendigkeit, Sportabteilungen mit Ballspielen einzurichten. Die Protokolle des MTV gaben leider keinen Aufschluss über weitere sportliche Tätigkeiten. Aber aus einer Inventurliste lassen sich neue Sportarten ersehen. In einer Inventur von 1905 hieß es: „Pferd mit Pauschen, ein Reck, ein Barren, eine Streckschaukel mit Zubehör, eine Hantel, zwei Sprungmatratzen, zwei Sprungbretter, ein Verbandskasten, ein Schleuderball, 46 Vereinsabzeichen, Instrumente zur musikalischen Begleitung von Umzügen und eine Fahne mit Koppel.“ Vergleichen wir die folgende Inventur von 1908, so kamen noch folgende Geräte hinzu: „Faustball mit Luftpumpe, eine Leine, ein Klettertau, 23 Keulen, ein Sprungständer mit Zubehör, eine Stoppuhr, Schlagbälle mit Schlaghölzern, zwei Eisenkugeln von 5 Kilo und 7,5 Kilo.“ Hieraus lässt sich leicht entnehmen, dass neben dem Turnen auch Schlagball und Faustball ausgeübt wurden. Hierzu passt es, dass der Verein einen Antrag an den Gemeinderat stellte, den Bürgerplatz als Spielplatz benutzen zu dürfen. Aber der Rat brauchte fast ein Jahr, um diesem Wunsch nachzukommen. Wahrscheinlich waren die hier zu fällenden Bäume das große Hindernis für eine schnellere Entscheidung. Schleuderball, Eisenkugeln, Sprungständer und Stoppuhren deuten darauf hin, dass auch leichtathletische Übungen getätigt wurden.

Das alte Vorsfelder Schulhaus, heutiger Jugendtreff. Schon vor 100 Jahren machte sich der MTV dafür stark, dass auch Schulkinder in den Verein aufgenommen wurden.

Das Jahr 1913 bescherte dem Herzogtum Braunschweig wieder ein Herzogpaar. Als gute Lokalpatrioten versäumten es die Turner nicht, auf Ernst-August, Herzog von Braunschweig, und dessen Frau Viktoria-Luise bei der Hauptversammlung ein „Gut Heil“ auszurufen. Sonststand das Jahr im Zeichen der Feiern zum 100. Jahrestag der Befreiung vom napoleonischen Joch und der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig. Dort fand auch vom 12. bis 16. Juli das Deutsche Turnfest statt, an dem fünf Mitglieder des MTV teilnahmen. Anlässlich der Jahrhundertfeier organisierte die Deutsche Turnerschaft in Form einer Staffel einen Eilbotenlauf nach Leipzig. Eine Teilstrecke von Braunschweig ausgehend bestritten drei Vorsfelder Turner. Ein Fallersleber Chronist berichtete von Kriegsspielen des dortigen Vereins, die von der Deutschen Turnerschaft organisiert wurden. Vom MTV Vorsfelde lässt sich Ähnliches nicht berichten, denn die Quellen geben über kriegerisches Gehabe keine Auskunft. Am 10. Januar 1914 hatte der Verein 97 aktive und passive Mitglieder sowie 34 Zöglinge. Wie in den Jahren zuvor sollte ein Fest gefeiert werden. „Neben den Turnvereinen der näheren Umgebung und den hiesigen Vereinen, sollen der Gemeinderat und der Jungdeutschlandbund (19) eine Einladung erhalten.“

Ehrung für einen Kriegstoten: Wilhelm Mahlmann war einer von 15 MTV-Turnern, die ihr Leben an den Fronten des Ersten Weltkriegs verloren.

Einige Monate später stürzte Europa in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges, von dem später der damalige englische Premierminister Lloyd George sagte: „Wir sind alle hineingeschliddert.“ Die Vereinsaktivitäten standen nun im Zeichen des Krieges. Der MTV stiftete 200 Mark zur Unterstützung der Familien, deren Väter im Felde standen. Später erhielten alle Turner, die sich an der Front befanden, Liebesgaben im Wert von 50 Mark. Die letzte Jahreshauptversammlung fand am 16. Januar 1915 statt. Sie beschränkte sich auf den Kassenbericht. Der Vereinsvorstand mit seinem Sprecher Gruß wurde bestätigt. In den letzten Kriegsjahren war die turnerische Tätigkeit stark eingeschränkt. Auch die Turnerinnenabteilung des MTV musste während des Krieges ihre Tätigkeit einstellen, da deren Leiter, Hermann Behrens, zum Heer eingezogen wurde und ein Ersatz nicht vorhanden war. So ruhte die gesamte sportliche Tätigkeit.

(15) Festschrift 140 Jahre MTV/VfB Fallersleben
(16) Duby, Georges und Perrot, Michelle, Geschichte der Frauen, S. 283
(17) Festschrift MTV Fallersleben, S. 16
(18) Knoop, Guido, Lied der Deutschen
(19) 1911 gegründete Dachorganisation der Jugend, dem unter anderem angehörte: Wandervogel, Deutsche Turnerschaft, Deutscher Fußballbund