1862-1875

DER ANFANG: DAS GRÜNDUNGSPROTOKOLL VON 1862

Das Dokument der ersten Versammlung: Mit dem Gründungsprotokoll wurde die Gründung des Vorsfelder „Turnvereins“ am 8. August 1862 amtlich. Wilhelm Grete war der erste Vorsitzende des Vereins. Um Geld ging es damals natürlich auch schon. Und zu Kaisers Zeiten wurde besonderer Wert darauf gelegt, dass nur „unbescholtene Männer“ in den Reihen der neuen Riege aufgenommen werden konnten. Schließlich sollte mannicht nur frisch und fromm, sondern auch fröhlich und frei sein.

Prolog
Von Dietrich Köther

Die Anfänge des Turnens in Deutschland sind untrennbar mit dem Namen Friedrich Ludwig Jahn, dem „Turnvater“, verbunden. Er sah in der Entwicklung des Turnens auch einen Zusammenhang mit politischen Zielen: die Befreiung Deutschlands von französischer Fremdherrschaft und der Gedanke an ein geeintes Deutschland unter preußischer Führung. Es war Jahns Hauptanliegen, die Jugend für den Kampf gegen Frankreich zu stärken. Mit seinen Schülern unternahm er ausgedehnte Wanderungen. Hinzu kamen Schwimmen, Spiele und regelmäßiges Turnen. Am 19. Juni 1811 entstand der erste deutsche Turnplatz auf der Hasenheide bei Berlin. An von Jahn entwickelten Geräten, wie Reck und Barren (1), wurden die Übungen durchgeführt. Beide Geräte gehören heute noch zum Standardinventar eines Turnvereins. Durch Riegenbildung versuchte Jahn ein kampfkräftiges Kollektiv zu bilden. Er führte entsprechende Wettkämpfe ein, lehnte aber militärischen Drill ab. Bis zur Revolution 1848 waren Turner und Studenten die geistigen Träger des Gedankens von Einigkeit und Freiheit Deutschlands. Die Turnerflagge mit den vier „F“ Frisch, fromm, fröhlich, frei geht auf Jahn zurück. Für das 19. Jahrhundert passten die vier Worte, heute werden sie kaum noch gebraucht. Die Turnbewegung des Vormärz war liberal gesinnt und einige Turner, unter anderem Jahn, waren auch 1848 Mitglieder der Nationalversammlung der Frankfurter Paulskirche. Das liberale Bürgertum formte sich 1859 neu und schloss sich mit dem Nationalverein zusammen.

Frühe Leistungssportler – die Musterriege des MTV Vorsfelde 1912/13 (von links): K. Franze, F. Lucas, H. Behrens, R. Behrens, W. Mahlmann, H. Witte, W. Haselhorst, W. Hartmann .

Diese neue Partei veranstaltete vom 16. bis zum 19. Juni 1860 in Coburg das erste „Deutsche Turn- und Jugendfest“. Dieses fand in der Öffentlichkeit Beachtung und war eine Werbung für das Turnen allgemein. Hiernach bekam die Turnbewegung neuen Schwung. Das führte Anfang der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts zu zahlreichen Neugründungen von Turnvereinen, die auch die ländlichen Gebiete erfassten. Das Vereinsturnen formierte sich meist unter dem Namen „Männerturnverein“. Das Turnwesen in seinen Anfängen steht im engen Bezug zu den Entwicklungen der studentischen Burschenschaften. Schon 1815 schlossen sich in Jena Studenten zusammen. Zu ihren Bundesfarben wählten sie die Farben der Uniform des Lützowschen Freikorps. Schwarz waren die Uniform, rot die Kragenspiegel und gold die Uniformknöpfe. Daraus entstand die Flagge mit den Farben Schwarz, Rot und Gold, die auf dem Wartburgfest 1817 erstmalig gezeigt wurde. Dieses Jahr war der Höhepunkt, aber auch gleichzeitig der Wendepunkt der frühen Turnbewegung. So schrieb die Berliner Morgenpost: „(…) auf einem freien Platz hatten junge Leute Gelegenheit, sich im Ringen, Laufen, Klettern, Springen (…) zu üben.“ Allein in Preußen gab es über hundert Turnplätze (2). Die Ereignisse des Wartburgfestes mit Festansprachen zur Einheit und Freiheit Deutschlands erregten den Argwohn der deutschen Fürsten. Die Ermordung des in russischen Diensten stehenden Schriftstellers August von Kotzebue durch den Burschenschaftler und Turner Carl Ludwig Sand am 18. März 1819 führte zu den Karlsbader Beschlüssen, die unter anderem auch das Verbot des Turnens auf öffentlichen Plätzen zum Inhalt hatten. Jahn, als sogenannter Demagoge, wurde zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Die Turnsperre galt von 1820 bis 1842. Trotzdem wurde Turnen an den Schulen weiterentwickelt, da die preußische Regierung den politischen Wert des Turnens schätzte und das Unterrichtsfach förderte.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts besaß Vorsfelde in der Person Carl Gretes eine herausragende Persönlichkeit, die im Sinne des bürgerlichen Liberalismus politisch tätig war und auch das Amt des Bürgermeisters ausübte. Es war ein Mitglied der Familie Grete, nämlich Wilhelm, der Sohn von Carl, der am 8. August 1862 zur Gründungsversammlung eines Turnvereins in das Vorsfelder Schützenhaus einlud.(3) Nachdem in der zweiten Versammlung die Statuten angenommen wurden und 50 Exemplare in Druck gegeben werden konnten, erfolgte am 19. September 1862 in der ersten ordentlichen Hauptversammlung die Wahl des Vorstandes, der sich wie folgt zusammensetzte:

1. Sprecher (Vorsitzender): Grete, 12 Stimmen

2. Schriftwart: Krüger, 9 Stimmen

3. Kassenwart: Ludwig, 5 Stimmen

4. Zeugwart: Köther, 9 Stimmen

5. Turnwart: Berger, 10 Stimmen

Revisoren: Nieß und Seelecke

Eine Vorstandswahl fand jährlich statt. Der Beitrag war praenumerando zu zahlen.(4) Es überrascht, dass noch bis zum Jahresende fünf Gründungsmitglieder den Verein wieder verließen. Das Austrittsbuch vermerkte nur „ausgetreten“. Gründe wurden nicht genannt. Waren die Erwartungen zu hoch oder konnten die turnerischen Leistungen nicht erbracht werden? Die Frage lässt sich nicht beantworten. Durch Neueintritte wurde die Mitgliederzahl wieder ausgeglichen. Hierzu bedurfte es der mehrheitlichen Zustimmung der bisherigen Mitglieder. Dies geschah durch das sogenannte Ballotement, einer geheimen Abstimmung mittels schwarzer und weißer Kugeln. Diese Methode wurde bis zum Ersten Weltkrieg beibehalten. Manches Gesuch wurde auch abgelehnt, denn in einem Ort wie Vorsfelde, der damals rund 1500 Einwohner zählte, kannte jeder jeden. Die Turnvereine im deutschen Turnerbund 1862 wiesen folgende Berufsgruppen auf:

• Landwirte 6,4 %

• Handwerker 42,5 %

• Fabrikarbeiter 6,7 %

• Kaufleute 23,6 %

• Studenten 1,3 %

• Künstler 2,5 %

• Lehrer 4,6 %

• Bürogehilfen 6,3 %

Soldaten 0,7 %

• Sonstige 6,4 %

Freiübungen. Mit solchen festgelegten Bewegungen begann auch beim MTV Vorsfelde jede Turnstunde. Die Disziplin machte sich rasch bezahlt: Schon 1863 konnte der noch kleine Verein eine Delegation von acht Sportlern zum Bezirksturnfest nach Braunschweig entsenden.

Mit geringen Abweichungen dürfte diese Struktur auch auf Vorsfeldes Bevölkerung zutreffen. Liest man die Namen der Gründungsmitglieder, so müsste der Prozentsatz für die Kaufleute höher angesetzt werden. Da Vorsfelde keine nennenswerte Industrie hatte, sind Fabrikarbeiter unter den Mitgliedern nicht zu finden. Künstler und Studenten gab es in Vorsfelde ohnehin nicht. Der kleine Verein, der 1863 13 Mitglieder und sieben jugendliche Mitturner zählte, entwickelte schon große Aktivitäten. Acht Turner nahmen am Braunschweigischen Bezirksturnfest teil, welches auch in den folgenden Jahren beschickt wurde. Der Vorsitzende, Wilhelm Grete, nahm den weiten Weg nach Leipzig auf sich, um am 3. Allgemeinen Deutschen Turnfest vom 1. bis 7. August 1863 teilzunehmen. Da Preußen schon 1860 über ein gutes Eisenbahnnetz verfügte, konnte man Leipzig über Braunschweig–Magdeburg–Halle erreichen. Allerdings durfte die Reise einen Tag in Anspruch genommen haben. Zeigte sich der Verein auch nach außen aktiv, so musste sich doch der Vorsitzende Grete über den mangelnden Besuch der Turnabende beklagen: „Licht und Torf wären unnötig verbrannt, wenn nur die Hälfte kommt.“ Alle Anwesenden erklärten sich bereit weiter zu turnen und fassten den Beschluss, dass zweimaliges unentschuldigtes Fehlen den Ausschluss bedeutete. „Pünktlich um ¼ 9 wird mit Freiübungen begonnen.“ Wenn man bedenkt, dass zur jener Zeit schwere körperliche Arbeit üblich war, so stellten die Übungen für die damaligen Mitglieder eine zusätzliche Belastung dar. Der MTV pflegte einen engen Kontakt zur hiesigen Schützenbrüderschaft, der sich nicht nur in gemeinsamen Umzügen, sondern auch beim Übungsschießen auf dem Schützenstand zeigte. Ein Trend zum Militarismus war es aber nicht. Schon Jahn lehnte einen militärischen Drill ab. Auch beim ersten deutschen Turn- und Jugendfest in Coburg wurden die Tendenzen zum Wehrturnen mit Gewehr und Bajonett eingeschränkt.Im örtlichen Vereinsleben zeigte sich der MTV erstmalig 1865 durch ein Schauturnen,bei dem 34 Kinder als Mitturner auftraten, daraufhin erhielt der Verein die Unterstützung der Lehrer der Bürgerschule. Aufgrund dieser Veranstaltung traten 23 Knaben dem Verein als Mitturner bei. Vereinsintern wurden diese „Zöglinge“ genannt. Das Knabenturnen fand abends von 8–10 Uhr statt. Für heutige Verhältnisse war das eine relativ späte Tageszeit. Von der deutschen Turnerschaft in Leipzig erging an alle Sportvereine ein Fragebogen, der vom hiesigen MTV im Protokoll 31 wie folgt beantwortet wurde:

1. Wie viele Mitglieder? 11, davon turnen 10

2. Wie viele Knaben unter 14 Jahren turnen? a) Im Sommer 29 b) Im Winter 24 c) Mädchen keine

3. Treibt der Verein Waffenübungen? Anfangsübungen zum Bajonettieren.

4. Wem gehört der im Sommer genutzte Turnplatz? Einem hiesigen Bürger.

5. Winterturnplatz? Eine ausgebaute Lohmühle.

6. Wem gehört dieselbe? Wieder einem hiesigen Bürger.

1912 wurde das 50. Stiftungsfest gefeiert und an Gründer Wilhelm Grete (kleines Bild) erinnert.

Am 9. Februar 1866 wurde die Turnerfeuerwehr gegründet, welche aus dem MTV hervorging. Hierzu sagt das Protokoll: „(…) Dass sich die Gretischen jungen Leute im Falle einer Feuerstgefahr sofort mit der von Wilhelm Grete geliehenen Handspritze nach dem betreffenden Ort begeben, auch hat sich Wiegmann versehen mit einer Axt bei Grete einzufinden, um die Spritze zu begleiten. Die übrigen Mannschaften begeben sich nach dem Bürgermeister Steffens, um unter Wohlers Aufsicht den Wasserwagen, welcher uns von dem Bürgermeister bewilligt ist, in Empfang zu nehmen.“ Grete wurde auch als Kommandeur gewählt. Die Gefahr der Feuersbrünste in Vorsfelde schien vorbei gewesen zu sein, denn bis zur Gründung der Freiwilligen Feuerwehr in Vorsfelde 1894 brauchten die Turner nicht aktiv zu werden. Es war am Ende des 19. Jahrhunderts durchaus üblich, kräftige junge Turner bei einem Brand einzusetzen. Gerade im kleinstädtischen Milieu übernahmen Turnvereine eine Vielzahl sozialer Funktionen, wie zum Beispiel vaterländische Gedenkfeiern oder Übungen als Feuerwehrleute.(5) Einladungen befreundeter Turnvereine aus Gifhorn, Helmstedt, Königslutter und Calvörde konnte aus finanziellen Gründen nicht immer gefolgt werden, da die Finanzierung von eigenen Turngeräten Vorrang hatte. Die Wege konnten nur mit Pferdefuhrwerken zurückgelegt werden, die auch bezahlt werden mussten. Die Turnvereine klagten überall über eine starke Fluktuation, denn die Summe der Zu- und Abgänge war genauso hoch wie die Gesamtzahl der Mitglieder. Das traf auch voll und ganz auf den Männerturnverein Vorsfelde zu. So bot der Halbjahresbericht vom 1. Oktober 1870 wenig Erfreuliches. Nur noch elf Mitglieder zählte der Verein. Vier Aufnahmen stehen folgende Abgänge gegenüber: ein Ausschluss wegen nicht bezahlter Beiträge, zwei Einberufungen zum Militär, ein Abgang wegen Krankheit, ein Abgang mit Pass in die Fremde. Dem versuchten Vorsfelder Handwerksbetriebe gegenzusteuern, indem sie ihre Gesellen dem MTV zuführten. So lesen wir von der Aufnahme eines Stellmachergesellen bei Nieß oder eines Schneidergesellen bei Tinney. Somit erfüllte der Verein auch eine soziale Funktion, wandernde Handwerksburschen in die Vorsfelder Gesellschaft zu integrieren. Im Krieg 1870/71 hatte auch der Verein Opfer zu beklagen. „Es starben an Folge der sich bei der Belagerung von Metz zugezogenen Krankheit an Typhus unsere Kameraden Wilhelm Jeimke am 15. Oktober im Lazarett von Chalencourt und Wilhelm Ludwig am 19.10. zu Tremary. Ehre Ihren Gedenken.“ Ein Nachruf erfolgte auch in der Turnerzeitung 1870 auf Seite 272. Beide Namen finden sich nicht auf dem Gedenkstein an der Sankt Petri Kirche. Der Grund dafür mag darin zu suchen sein, dass beide Turner ein Jahr zuvor zum Militärdienst nach Braunschweig eingezogen wurden und in Vorsfelde keinen Wohnsitz mehr hatten. Selbstverständlich fanden in diesem Kriegsjahr keine Festlichkeiten statt. Auch der Turnbesuch ließ nach, sodass im Sommer auf Turnabende verzichtet werden musste. Durch den siegreichen Krieg gegen Frankreich bekam auch die Turnbewegung in Deutschland neuen Aufschwung. Der liberale Geist verblasste mehr und mehr. Dafür war man nun stramm national gesonnen. Bismarck-, Kaiser- und Vaterlandskult nahmen zu. Das große Ziel, welches Jahn mit seinen Turnern vor mehr als 50 Jahren vor Augen hatte, war nun erreicht: die Einheit Deutschlands unter preußischer Führung. Was der bürgerlich-liberalen Revolution von 1848 nicht gelang, wurde durch Bismarcks Politik erreicht. Der deutsche Reichstag ging nun aus allgemeinen, gleichen, geheimen und unmittelbaren Wahlen hervor. Die Symbole des Kaiserreiches wurden zunehmend in die Vereinskultur integriert. Schon beim vierten Turnfest, das 1872 in Bonn stattfand, zierten schwarz-weiß-rote Schleifen die Siegerkränze. Die schwarz-weiß-rote Flagge wurde aber erst 1892 durch kaiserlichen Erlass zur Nationalflagge erklärt.(6) Die Turner beteiligten sich beim Schützenumzug in Turnertracht, in der man aber nichts Militärisches sehen sollte. Es war schon eine Jahnsche Forderung: „Alle Turner sollen eine Gleichtracht von gleichem Stoff und gleichem Schnitt tragen, um Standesunterschiede zu verwischen.“(7) 1874 hatte der Verein erstmalig über 20 stimmberechtigte Mitglieder und konnte in den kommenden Jahren regelmäßig die Vorturnerübung in Braunschweig beschicken, was vorher manchmal aus finanziellen Gründen gescheitert war. Jetzt wurde es möglich, in zwei Riegen zu turnen. An das beliebte Wintervergnügen konnte nun auch wieder gedacht werden. Hierzu vermerkte das Protokoll: „Von Seiten der an unserem Vergnügen theilnehmenden Frauen und Jungfrauen wurde uns eine Fahne geschenkt.“ Eine Fahne stellte damals einen erheblichen Wert dar und zeigte als Geschenk eine starke familiäre Verbundenheit mit den Turnmännern. Nachdem Grete zwölf Jahre als Vorstand gedient hatte, lehnte er eine weitere Wahl ab. Ihm folgte Niemann als Sprecher. Der Kassenbericht wurde nun in Mark und Pfennig abgerechnet, denn seit dem 1. Januar 1875 gab es im Deutschen Reich nur eine Währung. Vorher hatte der Süden eine Guldenwährung, während im Norden und somit auch in Vorsfelde mit Groschen und Talern gerechnet wurde. Der Hinweis über den Kauf einer neuen Petroleumlampe lässt darauf schließen, dass im Schein solcher Lampen abends geturnt wurde. Nach nur zwei Jahren Amtszeit wurde Niemann nicht mehr wiedergewählt. An seine Stelle trat Carl Possiel.

Die beiden Seiten der historischen Vereinsfahne. Der „Männer-Turn-Verein“ zu Vorsfelde zeigte sein Banner mit dem leuchtenden Rot stolz bei vielen Veranstaltungen. Eine feste Vereinsfarbe gab es damals noch nicht.

(1) Brockhaus Enzyklopädie
(2) Wikipedia, 30.01.2007
(3) Dieses befand sich damals in der unteren Langen Straße 11. Siehe Ausstellung zum hundertjährigen Stiftungsfest.
(4) Praenumerando = im Voraus