1876-1907

Hinter diesem Foto steht eine spannende Geschichte. Es zeigt die Männer der „II. Riege der Turn-Gemeinde Würzburg“. Karl Franke (hintere Reihe, Zweiter von rechts) ging als Uhrmachermeister und Juwelier 1910 nach Vorsfelde. Er schloss sich dem MTV an. Die „Riesenwelle“ war seine große sportliche Leistung.

Am 31. Mai 1876 verließ der Gründer des MTV Vorsfelde, Wilhelm Grete, den Verein. Er war Motor, Zuchtmeister und Mäzen zugleich, und viele Impulse hatte der Verein ihm zu verdanken. Im Austrittsbuch steht nur lapidar „ausgetreten“. Die Vorsfelder Chronik berichtet, dass Wilhelm Grete am 16. Mai 1876 seinen Besitz für 51000 Mark an seine Brüder Carl und Otto verkauft hatte.(8) Hieraus kann man entnehmen, dass Wilhelm Grete den Ort Vorsfelde in Richtung Braunschweig für immer verlassen hatte. Beim Tanzvergnügen blieb man zu dieser Zeit unter sich. Weder an die Schützenbrüderschaft noch an den Landwehrverein ergingen Einladungen. Aber jedes Mitglied konnte einen Freund mitbringen. Dass dazu auch eine jeweilige Tanzpartnerin gehörte, verschweigt das Protokoll. Das Turnlokal wurde 1877 in die Gaststätte Oelmann verlegt. Der Höhepunkt des Vereinslebens im selben Jahr war der Besuch von zwei Abgeordneten des Gauvorstandes aus Braunschweig. Sie wurden gebührend am Bahnhof empfangen. Anschließend tagte man bei Oelmann unter Beteiligung von Vorsfelder Bürgern. Unter ihnen befand sich Bürgermeister Otto Grete. Die Besichtigung der Turnplätze folgte. Einige der eingeladenen Bürger traten als Turnfreunde, also als passive Mitglieder, dem Turnverein bei. „Die Kooperation mit der Schule soll gesucht werden. Die Schüler auffordern zum Turnen und mit Freiübungen anfangen und den Trieb zum Turnen fortpflanzen.“ Das war der Ratschlag, der von den beiden Vertretern des Gauvorstandes gegeben wurde. Am 10. Juli 1876 erließ das Braunschweigisch-Lüneburgische Consistorium eine Verfügung zur Förderung des Sportes an den Bürger- und an den Landschulen. Der Besuch von höherer Stelle beflügelte den auf zwölf Mitglieder geschrumpften Verein zu größeren Aktivitäten. Doch hierzu bedurfte es einer Beitragserhöhung von 50 Pfennig monatlich, um Besuche des Vorturnerlehrgangs in Braunschweig und des Gauturnfestes in Gifhorn zu ermöglichen.

Die Leistungen der Musterriege sollten erhöht werden. Aus dem Turnerbuch konnten die Übungen entnommen werden. Mit acht Teilnehmern besuchte der Verein das Turnfest in Gifhorn. Der sportliche Aufschwung schien nur ein Strohfeuer gewesen zu sein. Am 1. April 1878 zählte der Verein nur noch neun aktive Mitglieder, drei Mitturner und acht Turnfreunde. Weder konnten Veranstaltungen durchgeführt werden, noch erfolgte aus Kostengründen der Besuch der Vorturnerlehrgänge in Braunschweig. Der Sommerturnplatz wurde aufgegeben. Der Verein rutschte in eine Krise. Der Halbjahresbericht vom 1. April 1878 war vorläufig das letzte Protokoll des Vereins. Dieses wies ein Vereinsvermögen von 215,85 Mark aus. Das Austrittsbuch wurde noch bis 1884 geführt und gibt Zeugnis von dem wechselvollen Auf und Ab des Vereins. Die letzte Eintragung ist datiert vom 4. April 1884. In mehr als 20 Jahren seines Bestehens traten 198 Turner aus dem Verein aus. Dies mag überraschend klingen, aber der Grund ist in der gesellschaftlichen und sozialen Situation der Zeit zu suchen. So finden wir 35-mal die Bemerkung „in die Fremde“ und einige Male „in die Heimat“. Hier handelt es sich zweifellos um Handwerksburschen, die dem damaligen Brauch folgend ihre handwerklichen Kenntnisse in der Fremde zu vervollständigen suchten. Hier zeigte es sich auch, dass der MTV den sportlichen Gesellen eine turnerische Heimat bot und sie gleichzeitig in die örtliche Gesellschaft integrierte. Meist erfolgte der Zusatz „mit Pass“. Somit konnten die Wanderburschen in den späteren Vereinen schnelleren Anschluss finden. Die Mobilität der jungen Leute war recht groß. Viele Orte, meist in der näheren Umgebung, wurden genannt, zum Beispiel Hannover, Braunschweig, Oebisfelde, Königslutter, Helmstedt, Velpke. Das Gründungsmitglied Carl Köther zog es in die weite Welt hinaus. Hier wurde 1869 New York genannt. Häufig war Braunschweig der Zielort. Hierbei handelt es sich um Braunschweig als Garnisonsort und die Dienstzeit der Vorsfelder Rekruten wurde meist dort abgeleistet. Viele kehrten nach ihrer Militärzeit nicht mehr nach Vorsfelde zurück, sei es, dass sie dort eine Familie gründeten oder in der Landeshauptstadt eine bessere Arbeitsmöglichkeit fanden. Das dürfte auch für Oebisfelde zutreffend gewesen sein. Der Ort entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Eisenbahnknotenpunkt. Dies bedeutete neue Arbeitsplätze, und Arbeitskräfte konnte Vorsfelde bieten. (9) Schaut man auf einige Namen der Fortgereisten, so tauchen diese im 20. Jahrhundert in Vorsfelde nicht mehr auf.

Ein aktives Vereinsleben bestand kaum noch. Obwohl Sitzungsprotokolle nicht vorhanden waren, ist aus der 1887 erschienenen Festschrift zum 25. Jubiläum zu entnehmen, dass vom 1. Oktober 1880 bis zum 6. Oktober 1888 Erich August Drevenstedt Sprecher des Vereins gewesen war. Somit musste noch ein amtierender Vorstand gewählt worden sein. Das aktive Turnen ruhte aber völlig. Da auch der MTV Fallersleben erst 1889 wieder in Erscheinung trat, lässt sich nicht feststellen, ob während dieser Zeit Einladungen an den Vorsfelder MTV ergangen sind. Umso erfreulicher ist im Protokoll „numero eins“ vom 6. Oktober 1888 zu lesen, dass in der Gastwirtschaft Buchholz/Schützenhaus fünf Turner, unter ihnen der Sprecher Drevenstedt, die Initiative ergriffen hatten, den Verein wieder zu aktivieren. Gleichzeitig traten neun Turner in den Verein ein. Am 11. Oktober 1888 erfolgte die Wahl Oskar Wittes zum neuen Sprecher. Das noch vorhandene Kapital sollte für die spätere Nutzung eines neuen Turnlokals aufgehoben werden. Die alte Satzung von 1862 wurde modifiziert und der Kreisdirektion zur Genehmigung vorgelegt. Frühere Turner meldeten sich wieder in dem Verein an. Diese mit großem Elan vorgetragenen Initiativen kamen fast einer Neugründung gleich. Die am 8. Januar 1889 ausgesprochene Einladung zum Gauvorturnerlehrgang konnte noch nicht angenommen werden, „da der Verein erst seit einigen Monaten wieder ins Leben gerufen sei“. Im Winter sollte wieder ein „Turnkränzchen“ stattfinden, so der einstimmige Beschluss. Die Musikkapelle Flor aus Oebisfelde, die aus zwölf Personen bestand, sollte 36 Mark erhalten. Außerdem wurden für sie 60 Glas Bier bewilligt. Die Musik schien ein großer Kostenfaktor gewesen zu sein, denn auch Tanzgeld wurde von den Beteiligten verlangt. Über die Dauer des Festes kann nur spekuliert werden. Die Abfolge des „Turnerkränzchens“ soll hier detailliert wiedergegeben werden, da sie einen Einblick in die damalige Festkultur gibt:

„Festprogramm wie folgt:

Beginn 7 1/2 Uhr abends.
1. Concert
2. Begrüssungsrede
3. Concert
4. Tanz


Zwischen 10 und 11 Uhr kurze Pause und in derselben soll Keulenreigen in Mohrenkleidung aufgeführt werden. So dann findet wieder Tanz statt, welcher ohne Unterbrechung durch eine Kaffeepause bis zum Schluss des Vergnügens vordauert. Wer eine Dame einzuladen wünscht, hat dieselbe innerhalb der nächsten 14 Tage spätestens bis zum 5. Februar dem Vorstand mitzuteilen, der über ihre Zulassung entscheidet. Die Einladung der Damen geschieht mittels Karte vom Vorstand aus. Wer Gäste mitbringen will, hat selbige dem Vorstand anzuzeigen (…) Die Einladungskarten werden den Mitgliedern mit Namensanschrift des Einladenden zugestellt und hat derselbe den Gästen selbst zu überbringen. Die Eltern der Damen und Mitglieder, sowie auch Chefs und Meister der Mitglieder sind von jeglichem Festbetrag frei. Jedes Mitglied hat 3 Mark Festbeitrag im Voraus zu zahlen. Der Überschuss soll an die Vergnügungskasse gehen.“ Die Sitzung am 6. Februar beschäftigte sich auch mit der Ausschmückung des Saales. „Die Beschaffung des Grünen sollte auf Anweisung des Försters von der Gräflich von Schulenburgischen Baumverwaltung erfolgen und mit dem Gespann des Herrn Buchholz abgeholt werden und würde dann daran Beteiligten freie Zeche bewilligt.“ Es ist interessant zu lesen, mit welcher Sorgfalt der Jahreshöhepunkt vorbereitet wurde und welche große gesellschaftliche Bedeutung ein Vereinsfest für einen kleinen Ort hatte. Die Kassenabrechnung des stattgefundenen Turnkränzchens besagte: „Einnahmen 98 Mark, Ausgaben 73,37 Mark, somit ein Überschuss von 24,63 Mark. Im März soll vom Überschuss ein Concertabend mit Aufführung und Vortrag stattfinden.“ Ein Vortrag konnte auch Schauturnen beinhalten und ein Konzert darf nicht mit klassischer Musik gleichgesetzt werden. Aber trotzdem muss hervorgehoben werden, dass den Vereinsmitgliedern auch kulturelle Inhalte geboten wurden. Der Turner Buchholz besuchte das 7. Deutsche Turnfest vom 27. bis 31. Juli 1889 in München. Ebenfalls wurde die Gauversammlung in Hannover beschickt. Vorsfelde gehörte zum 6. Turngau des Reiches mit dem Sitz in Hannover. Sogenannte Gausteuern musste der Verein ebenfalls zahlen. Der Verein besaß nun bessere finanzielle Möglichkeiten und konnte seine Mitglieder durch Reisespesen in Höhe von sechs Mark unterstützen. Die Turner trugen jetzt eine einheitliche Kleidung, die aus einer dunkelgrauen Jacke, einer weißen Hose und einer Mütze bestand. Diese einheitliche Tracht wurde auch bei jedem Festumzug gezeigt.

Der älteste Turnpass des MTV Vorsfelde aus dem Jahr 1868. Er trägt noch die Unterschrift des Vereinsgründers Wilhelm Grete.

Das örtliche Interesse am Verein war durch Anwesenheit von 30 Turnern bei der Hauptversammlung ersichtlich. Im Jahr zuvor hatte der Vorsitzende nur ein Dutzend Mitglieder begrüßen können. Während mit den örtlichen Vereinen wie Männergesangverein, Schützenbrüderschaft und Landwehrverein eine gute Zusammenarbeit bei den geselligen Festen bestand, erfolgte erst 1891 eine Einladung des hiesigen Bürgervereins zu dessen Bürgerfest. Fester Bestandteil der vereinsinternen Feste waren die alljährlich durchgeführten Rekrutenabschiedsfeste. So wurde die örtliche Verbundenheit mit den zum Militärdienst abgerufenen Rekruten bestätigt. Obwohl dieses Fest regelmäßig mit einem Defizit endete, wurde doch nie darauf verzichtet. Der Stellenwert des Turnens und des Sportes im Allgemeinen im Deutschen Reich kommt bei der Eröffnungsrede von Kaiser Wilhelm II. anlässlich der Berliner Schulkonferenz 1891 zum Ausdruck: „Wir wollen eine kräftige Generation haben, die auch als geistige Führer und Beamte dem Vaterland dienen. Das Turnen hat durch zweckmäßige ausgewählte und geordnete Übungen das Ziel, die leibliche Entwicklung der Jugend zu fördern. Volksspiele sollten auch unter Erwachsenen zur Hebung der Gesundheit beitragen.“(10) Sogar die Zeitschrift „Gartenlaube“ erkannte den Wert des Turnens. In ihrer Ausgabe von 1888 empfahl sie gegen Haltungsschäden bei Schulkindern täglich Freiübungen von 20-minütiger Dauer und lieferte die entsprechenden Übungen durch Abbildungen.

Das vermutlich erste Turnpferd. Das Bild aus dem Bundesarchiv zeigt ein Sportgerät, auf dem
Jahn höchstselbst geturnt haben soll. Es verfügt sogar über einen Sattel.

Von der Stimmung im Lande profitierte auch der MTV durch einen Mitgliederzuwachs. Der bisherige Übungsraum war zu klein geworden und so wechselte der Verein 1882 vom Gasthaus Buchholz in den Saal von Oelmann, der diesen für jährlich 30 Mark vermietete. Der Lokalumzug ging nicht geräuschlos vonstatten, sondern wurde mit den benachbarten Vereinen aus Oebisfelde, Fallersleben und Brome gefeiert. 1894 schickte der Schriftführer ein Schreiben mit allen Adressen des Vorstandes an den Vorsfelder Postverwalter, da sämtliche Schriftstücke zurückgeschickt worden waren und den MTV nicht erreicht hatten. Es war eine durchaus unübliche Weise, denn die Reichpostbeamten waren sehr findig und dem hiesigen Postboten hätten in einem kleinen Ort wie Vorsfelde die Vorstandsmitglieder bekannt sein müssen. War es vielleicht eine Rache des Briefträgers? Es hätte ihm durchaus eine Ermahnung der vorgesetzten Stelle einbringen können. Dass Bismarck auch noch fünf Jahre nach seiner Entlassung hoch in Ehren stand, beweist die Bismarckfeier mit Umzug und Kommers. Das Jahr 1895 stand ohnehin im Zeichen von großen Feiern des Vereins. Die bei der Hauptversammlung 34 anwesenden Mitglieder beschlossen ein Sommerfest und im Oktober einen Ball abzuhalten. „Auf dem Festplatz soll ein Zelt aufgestellt werden, als Garderobe mit Waschbecken und Handtüchern. Der löbliche Gemeinderath und alle Vereine sind einzuladen. So der Landwehrverein, Schützenverein, Bürgerverein, Gesangverein, die Feuerwehr und der Bürger- und Gewerbeverein. Bis zum Fest soll wöchentlich 3-mal geturnt werden. Ein Teil der Geräte soll aus Fallersleben geliehen werden. Der Ausmarsch aus dem Bürgerplatz soll geübt werden. Nieß und Jakobs erklären sich bereit, die Freiübungen zu übernehmen und Gruß führt das Kommando.“ Verfolgt man das gesamte Protokoll, so war fast jedes Mitglied mit Aufgaben eingebunden. Denn zum „Grünes holen“, Kränze binden, Tanzzelt beschaffen und aufstellen wurden kräftige Helfer gebraucht. Dass das Fest ein Erfolg war, bewies die Abrechnung. Einnahmen von 561,40 Mark standen den Ausgaben von 457,75 Mark gegenüber.

Damals schien die Jugend kleine Probleme zubereiten. Der Vorsitzende ermahnte die jugendlichen Mitturner, pünktlich zu erscheinen und sich reger zu beteiligen. Wer unentschuldigt fehlte, sollte eine Strafe von 15 Pfennig entrichten. Das Zigarrenrauchen sollte während des Turnens im Saal nicht mehr gestattet werden. Über das zweite Fest des Jahres, die Rekrutenabschlussfeier, vermerkte das Protokoll folgendes: „Es soll nach Flügel und Geige getanzt werden: Die Mitglieder sollen ihre Damen bestimmen, damit dieselben eingeladen werden. Auch wurde vom Zeugwart Jakobs vorgeschlagen, die Ehrendamen zu berücksichtigen, welches gutgeheißen wurde.“ Der damaligen Zeit entsprechend dürfte es sich dabei um unverheiratete Frauen gehandelt haben. Turnfahrten nach Brome, Fallersleben, zum Klieversberg und die Beteiligung am Gauturnfest in Gifhorn standen auch auf dem Programm. Diese Veranstaltungen waren bei den hiesigen Turnern sehr beliebt. Mittels Pferdefuhrwerken machte man sich auf den Weg. Zu jedem Fest wurden ein Fahnenträger und zwei Begleiter bestimmt. Die jährlich im Frühjahr gefeierte Maskerade fand auch wieder statt. „Hierzu sollen je 50 rote Damenkarten und 50 grüne Herrenkarten ausgegeben werden. Jeder Zuschauer sollte eine Zuschauerkarte erhalten.“ Wie üblich wurde die Garderobe aus Braunschweig geliefert. Die besondere Erwähnung der Feiern in diesem Jahr zeigt, dass Geselligkeit im Verein einen großen Stellenwert besaß. 1897 feierte auch Vorsfelde mit der Errichtung eines Krieger- und Siegerdenkmals zur Erinnerung an den gewonnenen Krieg von 1870/71 gegen Frankreich den 100. Geburtstag Kaiser Wilhelms I. Zur Grundsteinlegung veranstaltete der Krieger- und Landwehrverein einen Fackelzug, an dem sich auch Mitglieder des MTV beteiligten. Im Anschluss daran fand im Seeleck’schen Saal ein Kommers statt, zu dem auch „patriotisch“ gesinnte Nichtmitglieder eingeladen waren. Als das Denkmal 70 Jahre später aus verkehrstechnischen Gründen versetzt werden musste, fand man im Sockel eine Kassette mit zeitgenössischem Inhalt, unter anderem eine Liste des MTV, worauf 50 Mitglieder namentlich aufgeführt waren. Viele Namen sind auch heute noch im Ortsregister gegenwärtig. Am 5. März 1897 teilten verschiedene Mitglieder dem Verein mit, dass elf Mann aus dem Turnverein ausgetreten wären mit der Absicht, einen zweiten Verein im Löbbeck’schen Lokal zu gründen. Das Protokoll nannte weder Gründe noch die Namen der Ausgetretenen. Dieser Verein, der in der Vorsfelder Chronik (11), als Arbeiter-, Turn- und Sportverein erwähnt wurde, nannte sich selbst „Neuer MTV“. Die Deutsche Turnerschaft versuchte einer alters-, klassen- oder standespolitisch geprägten Mitgliedschaft entgegenzuwirken. So stand in ihren Statuten: „Der Eintritt in einen Turnverein steht jedem Manne, Jüngling und Knaben offen, der mit redlichem Streben erfüllt ist, zu seinem und des Vaterlandes Nutzen und Frommen zu echter Männlichkeit sich auszubilden.“(12) In diesem Sinne handelte auch immer der MTV gemäß seiner Satzung. Hier turnte der Akademiker neben dem Handwerker, der Kaufmann neben seinem Gehilfen, der Lehrer neben seinen Schülern, der Meister neben seinem Lehrling. Sicherlich hatte der MTV im Laufe seines Bestehens einige Bewerber abgelehnt, aber niemals aus standespolitischen Gründen.

Nach der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 hatte die SPD wieder eine ungehinderte Entfaltungsmöglichkeit und gründete 1893 den Arbeiter Turnerbund als politisches Bekenntnis. In der Vorsfelder Vereinsgründung zeigte sich ein gesteigertes Klassenbewusstsein. Durch Zuzug von Post- und Bahnarbeitern und kleinen Angestellten begann man sich klassenintern zu organisieren und bereitete die spätere Etablierung der Arbeiterschaft in Vorsfelde durch die Sozialdemokratie vor, obwohl es bis zum Ersten Weltkrieg keinen SPD Ortsverein gab. So ist es in der „Geschichte Vorsfeldes, Band 2“ nachzulesen. Die politische Trennung zwischen bürgerlich-nationaler Turnerschaft und dem marxistisch orientierten Turnerbund setzte sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts noch fort. In Vorsfelde schienen die Gräben nicht so tief gewesen zu sein, denn 1899 beschloss der MTV, sich an der Fahnenweihe des neuen Vereins zu beteiligen, ihm die Turngeräte für einen Tag zu überlassen, aber am Schauturnen selbst nicht teilzunehmen. Trotz der Abgänge zum neu gegründeten zweiten Turnverein war um die Jahrhundertwende die finanzielle Situation gut. 250 Mark lagen beim Vorsfelder Spar- und Vorschussverein, dem Vorläufer der späteren Volksbank. Dieser Betrag war als Grundstein zum Bau einer späteren eigenen Turnhalle gedacht. Die Veranstaltungen in Fallersleben, Bahrdorf und des Bezirksturnfestes in Weferlingen besuchten zahlreiche Turner, die stets Gastgeschenke mitnahmen. Die Vereinsmitglieder konnten sich nun mit eigenen Abzeichen schmücken. Der Vorstand war an besonderen Nadeln zu erkennen. Der MTV zeigte wiederum seine Integrationsfähigkeit und veranstaltete mit dem Neuen MTV ein volkstümliches Wettturnen, um diesen in das örtliche Vereinsleben einzugliedern. Dem neuen Verein lieh man wiederum die Turngeräte aus. Auch die Weltpolitik drang in das Vereinsleben ein. So wurde 1902 der Überschuss vom Wintervergnügen dem Burenfonds überwiesen.(13) Erstmalig ist im Protokoll zu lesen, dass die Versammlungen mit Liedern begleitet werden sollten, denn es heißt: „(…) Mitglieder, die in der Versammlung ihre Liederbücher vergessen haben, sind mit 10 Pfennig zu bestrafen.“ Manche Vereine führten neben dem Turnen auch Gesangsriegen. „Die Wacht am Rhein“, „Heil dir im Siegerkranz“ und das Deutschlandlied gehörten zum Standardrepertoire des Turnergesanges. Letzteres wurde zunehmend häufiger gesungen. Das wird auch in Vorsfelde der Fall gewesen sein, denn Hoffmann von Fallersleben weilte oft als Gast im Gretischen Hause. Alle turnerischen Veranstaltungen in der Umgebung, die mit der Eisenbahn oder dem Pferdefuhrwerk zu erreichen waren, wurden besucht. Es kann auch möglich sein, dass man schon von dem Fahrrad Gebrauch machte, da sich 1896 in Vorsfelde ein Radfahrerverein gegründet hatte.(14) Dieses neue Fortbewegungsmittel erfreute sich zunehmend großer Beliebtheit. 1904 konnte der monatliche Beitrag von 25 auf 10 Pfennig ermäßigt werden. Gleichzeitig hatte die Vereinskasse noch Geld, um für 60 Mark ein transportables Reck anzuschaffen. Aus finanziellen Gründen schied der Fallerslebener MTV aus der Deutschen Turnerschaft aus und bildete mit den Vereinen aus Vorsfelde und Rühen eine Turngruppe, aber ohne dass der Vorsfelder MTV seine Mitgliedschaft in der Deutschen Turnerschaft aufkündigte. Die Zusammenarbeit mit dieser wurde noch verstärkt durch den Beitritt zu einer Unfall- und Haftpflichtversicherung. Arztrechnungen bei Turnunfällen hatte bisher die Vereinskasse beglichen. Wie streng vor 100 Jahren im Verein die Gebräuche waren, zeigten die Sitzungen des Ehrengerichtes. Hier stellte der Turnwart den Antrag, drei Turner auszuschließen, da sie trotz mehrfacher Aufforderung ohne Grund den Turnabenden ferngeblieben waren. Ein Turner rechtfertigte sich durch Krankheit und der zweite durch auswärtige Tätigkeiten, sodass am Ende nur ein Turner ausgeschlossen wurde. Dieses ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die damalige Arbeitszeit täglich rund zehn Stunden betrug und im Sommer auch manchmal mehr. Es gehörte viel Idealismus dazu, nach einer harten Tagesarbeit noch Kraft und Muße für den Sport aufzubringen. Die damaligen Turner können für uns heute rund 100 Jahre später große Vorbilder sein.

Ein Hochrad von 1886. Auch die Mitglieder des MTV setzten verstärkt auf das neuartige, pferdelose Fortbewegungsmittel, um zu Veranstaltungen zu fahren.
Protokollbuch des MTV Vorsfelde von 1862 bis 1872. Zusammenfassungen der Versammlungen wurden handschriftlich festgehalten.

(8) Geschichte Vorsfeldes, Bd 2, S. 241
(9) Geschichte Vorsfeldes, Bd. 2, S. 200
(10) Berg, Christa, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4
(11) Geschichte Vorsfeldes, Bd. 2, S. 21
(12) Eisenberg, Christiane, English Sports und Deutsche Geschichte, S. 139
(13) Vereine und Verbände unterstützten während des Burenkrieges die burische Bevölkerung.
(14) Geschichte Vorsfeldes, Bd. 2, 1896 u. Bd. 3, 1898