1933-1944

Gleichschaltung, Führerkult, Sport als Vorbereitung für den Dienst in der „Wehrmacht“: Mit dem Beginn der NS-Herrschaft wurden Deutschlands Sportvereine Teil der Maschinerie. Nicht allen Mitgliedsvereinen der Deutschen Turnerschaft kam diese Entwicklung ungelegen, hatten sie doch durch die Wirtschaftskrise viele Tausend Mitglieder verloren. Die „NSDAP“ hatte eine Förderung des Sports angekündigt – gemeint war Kontrolle. Sportfunktionär Theodor Lewald, Hauptorganisator der Olympischen Spiele 1936, schrieb: „Im Rahmen der Vereinstätigkeit ist eine so starke Kraft zu entwickeln, daß ein für unsere Volksgesundheit einflussreicher Prozentsatz der gesamten deutschen Einwohnerschaft freiwillig an den Übungen der Turn- und Sportvereine teilnimmt.“(36) Die Vereine versuchten sich zu arrangieren, ohne ihre Selbstständigkeit aufgeben zu müssen. Doch auch der MTV bekam die Auswirkungen der Diktatur schon früh zu spüren: Bereits 1933 wurde verlangt, dass mindestens 51 Prozent der Vorstandsmitglieder eines Vereins der „NSDAP“ oder dem „Stahlhelm“ angehören mussten. In Vorsfelde gab es keine Probleme, diese Auflagen zu erfüllen: Von zehn Vorstandsmitgliedern besaßen sieben bereits ein Parteibuch. Der Vorstand um Rudolf Behrens wurde am 22. April 1933 wiedergewählt. Schon eine Woche später wählte der Turnbezirk Vorsfelde nach und wählte seinen Vorsitzenden, den Vorsfelder Rektor Ahrens. Der teilte mit, dass der „neuen Zeit“ Rechnung zu tragen sei und auch im Bezirk „Gleichschaltung vorgenommen werden müsse“. Der MTV konnte in gewohnter Weise seine bisherige Tätigkeit fortsetzen.

Heimatverbunden, traditionsbewusst: Die neuen Machthaber setzten auf das
Idealbild der rechtschaffenen deutschen Bevölkerung. Auch alte Bräuche mussten herhalten. Hier ein Tanz in Vorsfelde.

Höhepunkt des Jahres 1933: Die Damenabteilung feierte ihr 25-jähriges Bestehen. Das Frauenturnen hatte bei manchem konservativen Vorsfelder Kopfschütteln hervorgerufen, und so kursierten zahlreiche Witze über die Turnerinnen. Aber alle Zweifler wurden eines Besseren belehrt. Mitglieder des aufgelösten Arbeiter-, Turn- und Sportbundes konnten in andere Sportvereine übertreten – wenn sie versicherten, „keine Beziehungen zu marxistischen Organisationen zu unterhalten“. Im Allgemeinen hatten die Sportverbände ihre „sozialistischen Kameraden“ aufgenommen und vertrauensvoll bis 1945 mit ihnen zusammengearbeitet. Auch in Vorsfelde ist das der Fall gewesen, wie sich mit Namen belegen lässt. Der Neue MTV von 1897 war ein Arbeiterturnverein, der 1933 aufgelöst wurde und deren Mitglieder nach Wunsch im MTV eine neue turnerische Heimat fanden. Deutschlandweit schlossen Turnvereine als „völkisch orientierte“ Organisationen seit 1933 jüdische Mitglieder aus. Die Ausrichtung des Bezirksturnfestes durch den MTV stellte den Verein vor große Herausforderungen: NS-Organisationen wie „SA“ und „SS“ mussten eingeladen werden. Neugeschaffene Disziplinen umfassten Schießen, Weitsprung, Hindernislauf und Gepäckmarsch. Wer sie absolvierte, war fit für den Dienst als Soldat. Die stetig wachsende Macht der Partei zeigte sich bereits hier. Das 15. Deutsche Turnfest in Stuttgart vom 26. bis 31. Juli 1933 besuchten zehn Vorsfelder Turner. Auch hier nutzten die neuen Machthaber den Sport zur Selbstverherrlichung. Am 30. November 1933 tagte die Kreisausschusssitzung, früher Turnbezirk. Von oben angeordnet, wurde der Turnkreis Braunschweig in vier Gebiete eingeteilt. Der vorher selbstständige Bezirk Vorsfelde kam zum Landkreis Gifhorn-Isenhagen und gehörte dem „Turngau 8, Niedersachsen“ an. Dieser Beschluss löste in Vorsfelde Verärgerung aus: Es war nicht einmal für nötig befunden worden, Vertreter des Turnbezirks Vorsfelde zu dieser Sitzung einzuladen. Das hatte zur Folge, dass der Vorsfelder Bezirksvorstand geschlossen zurücktrat. Die Demokratie hatte einen weiteren Rückschritt hinnehmen müssen. Der letzte Vorstand des Turnbezirks Vorsfelde bestand aus folgenden Personen. Aus der Namensliste geht hervor, wie stark das Engagement der Vorsfelder Turner im Bezirk war:

1. Kreisvertreter Rektor Ahrens, Vorsfelde

2. Kreisvertreter Lehrer Otte, Rühen

3. Geschäftsführer Inspektor Förster, Heßlingen

4. Schriftführer Justiz-Obersekretär Wilhelm Diedrichs, Vorsfelde

5. Männerturnwart Erich Behrens, Vorsfelde

6. Frauenturnwart Lehrer Grabley, Vorsfelde

7. Kinderturnwart Molle, Fallersleben

8. Jugendwart Lehrerin Fricke, Vorsfelde

9. Sportwart Raspe, Fallersleben

10. Schwimmwart Witte, Vorsfelde

Das noch vorhandene Kapital von 235,20 RM sollte den Bezirksvereinen gemäß ihrer Mitgliederzahl vom 1. Januar 1933 zurückgezahlt werden. Dabei lässt sich ersehen, dass der MTV zu diesem Zeitpunkt 67 Mitglieder über 14 Jahre hatte und damit dem MTV Fallersleben nur knapp nachstand. Der Bezirk hatte bis zu seiner Auflösung neun Männerturnvereine: Vorsfelde, Fallersleben, Brechtorf, Grafhorst, Heßlingen, Rühen, Velpke und Bergfeld. Die letzte Sitzung des früheren Bezirks fand am 21. Januar 1934 statt. Am selben Tag traf sich auch der MTV Vorsfelde zur Hauptversammlung. Die Fachwarte lobten die rege Beteiligung der Turnerinnen sowie der Mädchen-, Knaben- und Schwimmabteilung. Bei den Männern sah es anders aus: Viele waren in der „SA“ oder beim „Reichsarbeitsdienst“ eingesetzt, die eigene Sportangebote hatten. Kurios: Nach der Versammlung ging es erst in die Kirche, dann zu einer „NSDAP“-Veranstaltung. Rasch knüpfte der MTV Kontakte zum örtlichen „Bund Deutscher Mädel“ (BDM): Die Organisation bat um die Mitbenutzung der Sportgeräte des Vereins. Turnschwester Sander übernahm die Leitung, sodass sich zwischen „BDM“ und Turnverein eine enge sportliche Beziehung entwickelte. Zeitzeugin I. W.: „Wir gingen gern zu den Sportveranstaltungen des BDM und hatten somit die Möglichkeit, zweimal in der Woche zu turnen. Die Veranstaltungen von BDM und MTV waren getrennt.“ Ein Jahr später folgte die „Hitlerjugend“ mit der Bitte um Unterstützung und Mitbenutzung des Saales sowie der Geräte. Das Protokoll vermerkt hierzu: „Nach eingehender Besprechung wurde dem Antrag zugestimmt.“ Vorangegangen war eine intensive Debatte. Der Vorstand hatte sich die Entscheidung nicht leicht gemacht.

Vorsfelde und sein Umland waren in den 30er-Jahren stark ländlich geprägt. Schweine wurden gehütet, wo heute Stadtgebiet ist. Foto: Stadtarchiv/Naucke

Die „NS-Frauenschaft“ trat dem MTV mit einer Frauenabteilung bei. Das Mitgliedsbuch verzeichnete den Eintritt von 32 Frauen der Jahrgänge 1886 bis 1914. Auf der anderen Seite beklagte der Verein den Austritt von Mitgliedern, was 1935 im Mitgliedsbuch deutlich wurde: Die Sportangebote der NS-Organisationen machten den bewährten Vereinsstrukturen Konkurrenz. Die Fertigstellung des Mittellandkanals in der Region erwies sich indes als Belebung für den Schwimmsport: 1935 machten 40 Jungs und Mädchen ihren Freischwimmer. Wer im Kanal schwimmen wollte, benötigte einen Ausweis vom Kanalbauamt in Oebisfelde. Das Baden sollte nicht ohne Aufsicht geschehen. Da aber der MTV schon vor einigen Jahren der DLRG beigetreten war, fehlte es nicht an kompetenten Schwimmern bei den Übungsstunden. Zeitzeuge S.P.: „Alle Kinder, die schwimmen lernen wollten, trafen sich unter der Anleitung des Schwimmwartes Franz Bachmann und seiner Frau am Kanal. Die Kinder konnten hier unentgeltlich das Schwimmen lernen. Schaffte man 300 Meter, wurde man in die Mitte genommen und durfte den Kanal überqueren. Einige von uns sind richtige Wasserratten geworden.“ Ein Jahr später erwarben zehn Turner und Turnerinnen den Grundschein. Ab 1935 drang, von außen gefördert, die nationalsozialistische Herrschaftsideologie verstärkt in das Vereinsleben ein. Das Dietwesen, die „völkische Aussprache“ vor oder nach einem Wettkampf, war ein vorgegebenes, aber von den Sportlern wenig beachtetes Ritual. Doch jeder Verein war verpflichtet, einen Dietwart zu benennen. Im MTV übernahm diese Rolle der Lehrer Kahn. Jährlich fand ein Schauturnen statt. Doch der Erlös kam nicht dem Verein zugute, sondern ging an die Winterhilfe. In dem Sportteil einer örtlichen Zeitung wurde dem Verein zum Vorwurf gemacht, dass er es nicht für nötig befunden hätte, in der Reichssportwerbewoche selbst eine Werbeveranstaltung auszurichten und somit dem olympischen Gedanken nicht nachgekommen sei. Der Vorstand, der sich jetzt „Vereinsführerring“ nannte, konnte den anonymen Einsender nicht ausfindig machen.

Die Olympischen Sommerspiele 1936 waren das große Sportereignis des Jahres. Der MTV setzte aber zeitgleich weiterhin auf Breiten- denn auf Leistungssport. Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1982-047-02 _ Hoffmann _CC-BY-SA

Das Jahr 1936 brachte für die Sportorganisation in Deutschland große Veränderungen. Es kam zur Gründung des Deutschen Reichsbundes für Leibesübungen, dem sich die altehrwürdige Deutsche Turnerschaft unterstellte, indem sie gleichzeitig ihre Auflösung beschloss. Der „Reichsbund für Leibesübungen“ gliederte sich in 15 Fachverbände, von denen die Turnerschaft eine war. Diese, nun in Deutscher Turnerbund umbenannt, war zuständig für Turnen, Gymnastik und Sommerspiele, wobei unter Turnen Geräteturnen und unter Sommerspiele Ballspiele gemeint sind.(37) Im Teilbereich der Leibesübungen fand eine Trennung der paramilitärischen „Sportarten“ von den zivilen Bereichen statt. Für die ersteren waren die Verbände der „SA“ und der „SS“ allein zuständig. Diese Entwicklung kam dem MTV sicherlich ganz gelegen. Der Reichsbund für Leibesübungen verfasste eine Satzung, die in jedem Verein verlesen werden musste und für diesen bindend war. Das zentralistische System einer Diktatur wurde spürbar. Auf dem turnerischen Gebiet erlebte der Verein nochmals einen Höhepunkt. Dies zeigen die Beteiligungen am Gauturnfest in Bremen und am Elmturnfest. Ende des Jahres 1936 vermeldete der Knaben- und der Mädchenwart des Vereins, dass „alle Jugendlichen dem Jungvolk, der HJ oder BDM angehörten“. Daher kam es zur Auflösung der beiden Jugendabteilungen des Vereins und dem Anschluss an die genannten Gruppen. Dieses war ein langjähriger Prozess, der bei anderen Vereinen schon früher einsetzte und nun auch in Vorsfelde seinen Abschluss fand. Der Leistungssport wurde, besonders im Hinblick auf die Olympischen Spiele, dem „Reichsbund für Leibesübungen“ unterstellt. Aber für den MTV war dieser Vorgang ohne Relevanz, da für ihn ohnehin der Breitensport Vorrang hatte. Zur Mitfinanzierung der Olympischen Spiele gab die Reichspost eine Sondermarkenserie heraus und die Sportvereine wurden beauftragt, diese an die Bevölkerung zu verkaufen. Ein normaler Brief, mit Sondermarken frankiert, kostete somit nicht 12 Pfennig, sondern man zahlte 6 Pfennig hinzu. Da der Verein nicht alle ihm übergebenen Olympiamarken verkaufen konnte, musste er die Zuschläge aus der Vereinskasse bezahlen. Wenn man bedenkt, dass der monatliche Beitrag damals für Erwachsene 30 Pf und für Kinder 20 Pf betrug, so war die Übernahme der nicht verkauften Marken eine finanzielle Belastung. Obwohl der bisherige Vorsitzende Rudolf Behrens bat, aus gesundheitlichen Gründen von seiner Wahl als Vereinsführer abzusehen, kam es doch aufgrund seiner großen Verdienste zu einer Wiederwahl. Der von ihm bestimmte Vorstand nannte sich jetzt „Führerrat“: Das Vokabular der Partei musste auch in den Vereinen Anwendung finden. So wurde auch in den Versammlungen die Anrede „Kamerad“ üblich. Der mangelnde Besuch der Turnabende gab Anlass zur Sorge. Der Grund dafür war sicherlich, dass die Männer verstärkt zu Tätigkeiten wie paramilitärischen Übungen und Reichsarbeitsdienst herangezogen wurden. So blieb für den Turnbetrieb nur wenig Zeit übrig. Für das Jahr 1937 stand die 75-Jahr-Feier im Mittelpunkt des Vereinsgeschehens. Da das 70. Jubiläum nur im bescheidenen Rahmen gefeiert worden war, wollte der „Führerrat“ des Vereins diesem Fest eine größere Bedeutung zukommen lassen. Laut Protokoll wurden zu dem Jubiläum folgende Gäste eingeladen: die früheren Bezirksturnvereine, MTV Gifhorn, MTV Braunschweig, der Unterkreisführer Stern aus Gifhorn, der Dietwart der Landeskreisgemeinschaft Helmstedt, die Führer des Kreises Braunschweig und des Gaues 8 Niedersachsen, der Ortsgruppenleiter, Bürgermeister und Gemeinderat, das Lehrerkollegium, sämtliche Ortsvereine, die Herren Förster, Tappe, Meyer, Wollstab, Grabley, Grimm und die Sportlehrerin Fräulein Sander. Die Liste der Eingeladenen ist ein Spiegelbild der damaligen Zeit. Neben den letztgenannten Personen, die sich um den Verein verdient gemacht hatten, und den befreundeten Männerturnvereinen wurden auch die damaligen Sportorganisationen berücksichtigt, um somit auch der politischen Situation Rechnung zu tragen. Die Einladung der örtlichen Vereine war bei der Bedeutung des Festes eine Selbstverständlichkeit. Zu dem Lehrerkollegium bestand ein enges Verhältnis. Einige Lehrer wie Wollstab, Grabley oder Sander waren für einige Jahre Leiter der Jugendabteilungen. Die kirchlichen Institutionen gehörten nicht zu den Geladenen, denn durch die Weimarer Verfassung war der Kirche die Aufsicht über die Volksschulen entzogen worden. Das hatte auch nach 1933 Bestand. An dem Vereinsleben des Ortes hatte die Kirche ohnehin nur noch wenig Anteil. Der Festablauf am Abend im Schützenhaus war folgender: Freiübungen der Turnerinnen, Turner am Barren, Turnerinnen mit Kastenübungen, Turner am Reck und Turnerinnen am Barren. Den sportlichen Höhepunkt bildeten die Vorführungen der Kreisriege Braunschweig. Mit mehrstündigem Tanz endete die Feier. Der Lehrer Stölting hielt die Festrede. Dabei gedachte er besonders der im Weltkrieg gefallenen Kameraden und betonte den Mut der zwölf Vereinsgründer, die in einem kleinen Ort wie Vorsfelde den MTV ins Leben gerufen hatten. Auch die Gründer der Damenabteilung, Hermann Behrens und Wilhelm Diedrichs, wurden lobend erwähnt.

Aus dem Jahr 1941 stammt der älteste Sportabzeichenpass des MTV Vorsfelde. Um völlig sicher zu gehen, wurde allein das Lichtbild zweimal abgestempelt.

Als noch einzig lebende Mitbegründerin der Frauenriege war Frau Maria Behrens anwesend. Zwölf Turnkameraden hatten aus Anlass der Jubelfeier dem Verein eine neue vorgeschriebene„Reichsbundfahne“ gestiftet. Weiter hieß es: „Der Reit- und Fahrverein Vorsfelde und Umgebung hatte seine Verbundenheit mit der Jubilarin durch Überreichung einer Führerbüste aus Bronze zum Ausdruck gebracht.“ Viele Freunde des Vereins waren gekommen, sodass der Saal bis auf den letzten Platz besetzt war. Die Allerzeitung würdigte das Festereignis mit einem ganzseitigen Bericht. „Kreisführer Stern betonte (…), in Vorsfelde haben Männer an der Spitze gestanden, die auch freudig in schweren Zeiten freiwillig ihre Arbeit getan haben. Eines hat sich nicht gewandelt: Die Treue dem Turnen, die Treue dem Volk gegenüber. (…) Folgt eurem Führer (gemeint ist Vereinsführer Rudolf Behrens), habt Gemeinschaft.“ Schaut man auf das Programm und vergleicht es mit dem 50-jährigen Jubiläum, so fällt auf, dass es sich auf turnerische Darbietungen beschränkte und einen musikalischen Rahmen vermissen ließ. Aber nach dem Festvortrag kam es doch zu einer „musikalischen Einlage“: „Die Führerverehrung und die Nationallieder brandeten durch den Saal.“ Trotz guter Beteiligung er gab das Fest ein Defizit von 81,85 RM, welches von der Vereinskasse getragen werden musste. Fünf Turner und neun Turnerinnen konnten sich auf dem Kreisfest des Turngaues 8 Niedersachsen in Gifhorn als Sieger auszeichnen. Auf der Generalversammlung am 9. Januar 1938 bat der Vereinsführer, Rudolf Behrens, der dem Verein seit 1923 vorstand, von seiner Wiederwahl abzusehen, da er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage wäre, das verantwortliche Amt eines Vereinsführers auszufüllen. Als neuer Vereinsführer wurde durch Zuruf einstimmig Franz Bachmann gewählt. Dieser ernannte dann den „Führerstab“. So nannten sich nun der weitere Vorstand und die Fachwarte. Hier ergab sich personell keine wesentliche Änderung. Auffallend ist nur, dass der obligatorische Dietwart noch nicht bestimmt wurde. Der sportliche Höhepunkt auf Reichsebene war das 18. Deutsche Turn- und Sportfest vom 27. bis 31. Juli 1938 in Breslau. Es war bisher das einzige Turnfest, das mit einer Briefmarkenausgabe gewürdigt wurde. Zeitzeuge I. W.: „Zehn Turner und sechs Turnerinnen vom hiesigen Verein nahmen an der großen Veranstaltung teil. Wir fuhren im Sonderzug nach Breslau und wurden in Privatquartieren untergebracht. Unsere Auftritte bestritten wir in gleicher Kleidung. Hitler war selbst anwesend (…).“ Mit dem Slogan: „Jeder junge Mann und jedes junge Mädchen gehört in die Turnhalle“ startete der MTV eine Werbewoche. Wie schon in den vergangenen Jahren hielt der „Vereinsführer“ fest, dass mehrere Mitglieder des Vereins das „Reichssportabzeichen“ errungen hatten. 1939 wurde im Protokoll letztmalig ein Wintervergnügen erwähnt. Turnerische Vorführungen standen im Mittelpunkt. Laut Mitgliedsbuch gehörten dem MTV 69 Männer und männliche Jugendliche an. Der Frauenanteil war nicht viel geringer. 22 Frauen und 25 Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren turnten im MTV. Ab 1940 werden die Protokolle weniger aussagekräftig und geben keine Hinweise auf gesellschaftliche und politische Aktivitäten. Die Regularien der Hauptversammlung liefen immer nach dem gleichen Schema ab: Kassenbericht, Vorschlag zur Wahl des Vereinsführers, Ernennung des Vereinsführerrates, Wahl der Kassenprüfer. Die Vorstandsposten wurden wiederholt von denselben Personen eingenommen. Das Blutvergießen auf den Schlachtfeldern machte sich bemerkbar: Wechsel im Vorstand gab es, wenn Mitglieder fielen. Dennoch versuchte der Vorsfelder Verein, einen Anschein von Normalität zu wahren: Der „Vereinsführer“ berichtete sowohl von einer zufriedenstellenden Kassenlage als auch von einem regen Turnbetrieb, der aber in erster Linie von den Damen aufrechterhalten wurde. Erst 1940 erfolgte die Eintragung in das Vereinsregister. Im selben Jahr konnte wieder eine Handballmannschaft gemeldet werden. Nicht nur personell, sondern auch durch Einschränkung der Räumlichkeiten machte sich der tobende Krieg bemerkbar. Seit Gründung der „KdF-Stadt“ konnten die Vorsfelder Vereine keine neuen Mitglieder gewinnen, und auch die Nutzung der üblichen Lokalitäten war für sie nur noch eingeschränkt möglich. Der Saal von Geismar wurde für das „Sozialwerk der KdF-Stadt“ und die Wehrmacht zum Übungsraum und stand für das Turnen dem MTV nicht mehr zu Verfügung. Das Jahr 1944 ist das letzte Kriegsjahr, über das schriftliche Aufzeichnungen vorliegen. 68 Turner gehörten noch dem Verein an, davon waren 38 zum Kriegsdienst eingezogen. 42 Frauen gehörten dem Verein an, von denen einige erst im Jahr zuvor den Weg zum MTV gefunden hatten. Durch die Kriegsereignisse bedingt, bestimmte nun das weibliche Element das Geschehen im Verein. Das letzte Protokoll vom 25. März 1944 unterscheidet sich in den Regularien nicht von denen der vorhergehenden Jahre. Trotzdem soll näher darauf eingegangen werden.

Das letzte Protokoll des „alten“ MTV: Im Kriegsjahr 1944 berichtet der Schriftführer von der Versammlung am 25. März in der Geismar‘schen Gastwirtschaft.

Da der Vereinsführer Franz Bachmann zum Wehrdienst einberufen worden war, eröffnete sein Vertreter Rudolf Behrens die Versammlung. Man gedachte zuerst der im letzten Jahr gefallenen fünf Kameraden. Der Kassenbetrag betrug 269,58 RM, zu dem sich noch ein Bankguthaben und das Inventar addierten. Das ergab ein Gesamtvermögen von 469,58 RM. Zu Kassenprüfern wurden Fritz Weihe und Alfred Ristau gewählt. Als Nachfolger des zum Heer einberufenen Vereinsführers Franz Bachmann wurde von der Versammlung einstimmig Rudolf Behrens gewählt. Derselbe ernannte seinen „Vereinsführerstab“:

1. Vertreter: Wilhelm Diedrichs

2. Schrift- und Kassenwart: Wilhelm Diedrichs

3. Oberturnwart: Erich Behrens

4. Turn-, Sport- und Schwimmwart: Julius Bickert

5. Jugend- und Gerätewart: W. Haselhorst

6. Leiterin der Turnerinnen: Sophie Bachmann

7. deren Vertreterin: Elisabeth Wienroth (heute Feldtmann)

Deutschland in Trümmern: Das Leben kam im Bombenhagel zum Erliegen, wie hier in Köln. Auch die Vereine konnten nicht mehr weiter machen.
Foto: Bundesarchiv, Bild101I-484-2999-20 / Bayer /CC-BY-SA.

Da durch den Krieg die Personaldecke bei den Männern dünn war, mussten mehrere Funktionen von einer Person übernommen werden. Auch griff man auf ältere, bewährte Turner zurück. Trotz der Kriegsereignisse sprach der stellvertretende Vereinsführer von einem regen Turnbetrieb. Dies bewies der Besuch der Wettkämpfe in Helmstedt und des Elmturnfestes. Von dem letzteren kehrten neun Turner und sieben Turnerinnen als Sieger zurück. Zeitzeugin G. S.: „Mit einer großen Abordnung nahmen wir am Elmturnfest teil. Von einem Trecker gezogen, saßen wir auf dessen Anhänger. Leere Bierfässer, auf welche Bohlen gelegt waren, bildeten die Bänke. Manchmal hatten wir das Gefühl, der Trecker schaffte den Elmanstieg nicht.“ Die häufiger publizierte Ansicht, „1938 wurde der Reichsbund für Leibesübungen aufgelöst und in den neuen parteiabhängigen Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen umgewandelt. Damit verloren die Vereine ihr Vereinsrecht, ihr Vereinsvermögen und ihre Selbständigkeit an die NSDAP“, lässt sich mit den Protokollen des MTV Vorsfelde nicht belegen. Der Verein war in sportlichen Belangen unabhängig, und das Vereinsvermögen blieb unangetastet. Sport funktionäre und Historiker unterstrichen diese Tatsache. So Carl Diem: „Es war Hans von Tschammers Verdienst, das Vereinswesen aufrechtzuerhalten. In der Tat hätte der Sport im Verein(…) ohne besonderen Einsatz des Reichssportführers wohl das Dritte Reich nicht überstanden.“(38) Durch die Erhaltung des Vereinswesens schuf er die Grundlage für den Wiederaufbau der Sportverbände nach dem Zweiten Weltkrieg.

(36) Eisenberg, Christiane, English Sports und Deutsche Geschichte
(37) Diem, Carl, Weltgeschichte des Sports und der Leibeserziehung, S.999
(38) Eisenberg, Christiane, English Sports und deutsche Geschichte, S. 395